Dürfen nach einem Lektorat noch Fehler im Text sein?

Die Meinung vieler Autoren bzw. Kunden: »Nein! Ich zahle für das Lektorat, da erwarte ich, dass alle Fehler beseitigt sind.« Dieser Chat auf dem Schriftstellerportal gibt die Position anschaulich wieder:

 »Hallo,
mein Lektor hat mein 500 Seiten Buch durchgearbeitet und es mir dann als fertig abgegeben. Beim Durchsehen musste ich feststellen, dass das Manuskript mehrere Fehler enthielt die der Lektor entweder übersehen hat oder auch selbst gemacht hat. […] Der Lektor hat gutes Geld bekommen und eine Arbeit abgeliefert die nicht 100%tig ist – finde ich nicht OK. Was meint Ihr dazu?«  

Nicht erfüllte Erwartungen, Frust, Enttäuschung und Verärgerung – nicht nur über das als unzureichend empfundene Lektorat, sondern auch den Lektor.

Keine Frage: Fehler in einem Text, der in den Druck gehen soll, sind wirklich ärgerlich. Aber ist es gerechtfertigt, dem Lektor schlampige Arbeit und sogar Abzocke zu unterstellen? Eine unaufgeregte Betrachtung des Falls kann die Gemüter besänftigen. Denn meist stecken ja auf beiden Seiten keine bösen Absichten dahinter, wenn ein Auftrag so endet, sondern fehlende Informationen, falsche Erwartungen sowie eine unzureichende Absprache vor dem Projektstart. Was genau meine ich damit?

Unseriöse Werbeversprechen wecken unrealistische Erwartungen

Das Werbeversprechen »Garantiert fehlerfrei«, mit dem einige Korrekturservices und freie Lektoren auf Kundenfang gehen, ist schlicht als unseriös zu bezeichnen. Leider weckt es die recht verbreitete Erwartungshaltung, dass ein gutes Lektorat absolute Fehlerfreiheit liefern könne und müsse.  Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass der Kunde im obigen Beispiel sich durch den Lektor geprellt fühlt (Zitat: Der Lektor hat gutes Geld bekommen und eine Arbeit abgeliefert die nicht 100%tig ist – finde ich nicht OK.).

Einen Text so zu überarbeiten, dass er zu 100 % fehlerfrei ist, kann unter Marktbedingungen keine realistisch zu erbringende Dienstleistung sein.

Ein paar Fakten zum Lektorat machen anschaulich, warum keine 100-prozentige Fehlerfreiheit garantiert werden kann:

  • Menschen machen Fehler

Kein Lektor oder Korrektor kann garantieren (!), dass er alle Fehler erkennt und beseitigt. Punkt. Das mag ernüchternd klingen, aber die Fehlererkennungsquote von Korrektursoftware liegt deutlich unter der eines professionellen Korrekturlesers.  Daher hat sich inoffiziell ein Richtwert von einem Fehler auf vier Normseiten für ein gutes Korrektorat etabliert.

  • Die Qualität des Ausgangstextes beeinflusst das Ergebnis

Die Fehlererkennungsquote ist abhängig von der Fehlerdichte und der Länge des Ausgangstextes: Je mehr Fehler zu korrigieren sind, desto eher werden Fehler übersehen. Das heißt, nicht allein die Kompetenz und Sorgfalt des Lektors beeinflussen die Qualität des Endtextes.

  • Ein Lektoratsdurchgang ist nicht ausreichend

Korrektorat und Lektorat können nicht in einem Arbeitsschritt erfolgen Der Fokus ist bei diesen beiden Überarbeitungsformen zu unterschiedlich: Beim Lektorat werden sprachlich-stilistische, strukturelle, logische und argumentative sowie fachliche Unstimmigkeiten aufgedeckt. Dazu ist es erforderlich, den Text in seinem Kontext und Argumentationsgang auf der inhaltlichen Ebene zu lesen. Wirklich jeden Buchstabendreher zu entdecken, setzt im Korrektorat einen ganz anderen Leseprozess voraus: Silbe für Silbe oder sogar Zeichen für Zeichen.

Ein sorgfältiges Korrektorat entdeckt und beseitigt ungefähr 90–98 % der Fehler, abhängig von der Qualität des Ausgangstextes. Eine weitere Reduzierung der verbleibenden Fehler ist nur möglich durch eine erneute Korrekturschleife bzw. ein 4-Augen-Korrektorat, bei dem ein zweiter Korrektor den Text prüft. Eine Fehlerquote von unter 1 Prozent würde bei einer durchschnittlichen Fehleranzahl von 35 Fehlern pro Normseite (Quelle: 1a-Studi-Lektor) rein rechnerisch (siehe Info-Slides unten) mindestens zwei Korrekturschleifen (Silbe für Silbe) voraussetzen.

Da zudem bei der Übernahme der Korrekturen und Änderungsvorschläge durch den Kunden neue Fehler passieren und Korrekturen übersehen werden können, ist es für ein optimales Korrekturergebnis erforderlich, ein abschließendes Schlusskorrektorat durchzuführen.

Die offene und präzise Absprachen zwischen Kunde und Lektor hilft, Ärger und Enttäuschung am Projektende zu vermeiden.

Nun mag die Vermutung des Kunden, der Lektor habe nachlässig gearbeitet, vielleicht stimmen (es gibt natürlich auch schwarze Schafe unter den Lektoren und selbst gute Lektoren haben mal einen schlechten Tag), allerdings wissen wir nicht, wie viel »mehrere Fehler« auf 500 Seiten sind und ob man daher tatsächlich von einem nicht sorgfältig durchgeführten Lektorat sprechen kann. Wir wissen nicht, ob ein Korrektorat überhaupt angefragt bzw. angeboten wurde oder ob für den Kunden Lektorat und Korrektorat das Gleiche sind – was sie nun mal nicht sind.

Hätte der Kunde mehr Informationen über den Lektoratsprozess gehabt, wäre ihm wohl bewusst gewesen, dass er den Auftrag Lektorieren Sie meine 500 Seiten präzisieren muss: detaillierte Aufgabenbeschreibung d. h. genaue Benennung der gewünschten Dienstleistung und des Ergebnisses.

Aber natürlich gehört es auch zur Aufgabe eines professionellen Lektors, die Kundenwünsche und Erwartungen abzufragen und vor allem den Kunden vor dem Auftrag darüber zu informieren, ob das gewünschte Ergebnis unter den gegebenen Bedingungen (also auch Zeit und Honorar) realisierbar ist.

Die allermeisten Lektoratsaufträge verlaufe völlig reibungslos. Und wenn es doch einmal zu Unstimmigkeiten kommen sollte: Suchen Sie das direkte Gespräch! Nicht per E-Mail, sondern persönlich oder am Telefon. So lässt sich – von Mensch zu Mensch – sicher schnell eine gute und für beide Seiten akzeptable Lösung finden.

UNTERNEHMENSKOMMUNIKATION

Komplexität: klar und nachvollziehbar darstellen

KORREKTORAT & LEKTORAT

Überzeugende Texte – formal, inhaltlich und sprachlich

PROJEKT: FACHBUCH

Schwedt, Georg: Taschenatlas der Lebensmittelchemie